T. Ruoss: Zahlen, Zählen und Erzählen in der Bildungspolitik

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Titel
Zahlen, Zählen und Erzählen in der Bildungspolitik. Lokale Statistik, politische Praxis und die Entwicklung städtischer Schulen zwischen 1890 und 1930


Autor(en)
Ruoss, Thomas
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 44,00
URL
von
Hans-Ulrich Grunder, Institut für Bildungswissenschaften (IBW), Universität Basel

Wie war der Aufstieg der Statistik in der Schulpolitik ausgangs des 19. und am Beginn des 20. Jahrhundert möglich und welche Funktionen hatten die damaligen Datenerhebungspraktiken für die Gestaltung lokaler Schulpolitik?

Das Ziel von Thomas Ruoss’ Zürcher Dissertation besteht darin, einen Beitrag zur Statistikgeschichte, zur Geschichte ‘evidenzbasierter’ Bildungspolitik und zu den Praktiken lokaler städtischer Schulverwaltungen im Kanton Zürich zu leisten. Der Verfasser folgt, dies ein erstes Ergebnis, einem Wechselspiel von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und dem Wunsch, diese empirisch zu stützen oder zu relativieren. Sichtbar und virulent zeigte sich dies in den Städten Zürich, Winterthur und St. Gallen, als mittels Schulreformen Prozesse initiiert werden sollten. Bisherige Entscheide galten oft als unzureichend legitimiert oder die ihnen zu Grunde liegende Evidenzbasis wurde als bloss ‘anekdotisch’ verunglimpft. Es stellte sich deshalb die Frage nach besserer Qualität empirisch gestützter Prognosen für die Schulverwaltung.

Es geht demzufolge in dieser Studie um die Art und Weise der Verwendung von Zahlen aus statistischen Tabellen, um deren Deutung sowie um die Genese von sich daraus ergebenden politischen Praktiken. Der Autor legt den Fokus jedoch nicht auf zentral organisierte, professionell gehandhabte Statistiken, sondern analysiert die quasi-amtlichen Verwaltungsstatistiken, die bislang nicht erforscht worden sind. Im Zentrum stehen die drei Städte Zürich, Winterthur und St. Gallen, die aufgrund von Eingemeindungen Ende des 19. Jahrhunderts schnell wuchsen, was die Administration von mehr Schulen in einer zentralen Verwaltungsstelle bedingte. Dabei orientierten sich Winterthur und St. Gallen an der Stadt Zürich, als sie die Organisationsform des schulischen Bereichs nach der Eingemeindung mehrerer Vorortsgemeinden festlegten. Es geht um das Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung, um die Beziehung der Statistik zur empirischen Basis von Reformen und schliesslich zur einseitigen Inkorporation empirischer Sachverhalte zugunsten politischer Absichten.

Der Verfasser der in fünf grosse Kapitel und einen Schlussabschnitt unterteilten Arbeit blickt damit in das Alltägliche der Statistikproduktion in der Gemeindeverwaltung. Er analysiert lokale, quasi-amtliche Verwaltungsstatistiken, indem er deren Funktionsweise entlang ihrer Produktions-, Disseminations -und Verwendungszusammenhänge erhebt. Gaben die amtlichen Statistiken zu dieser Zeit bereits vor, objektiv zu sein, dekonstruiert der Autor dieses Selbstverständnis und die Absichten, weniger aber die Methodologie der Datenproduktion für den schulischen und schulreformerischen Bereich.

Welche Position hatten lokale, städtische Datenerhebungen und wie beeinflussten sie den Wandel der städtischen Schulen ausgangs des 19. Jahrhunderts bis zur Zwischenkriegszeit?

Ruoss richtet den Blick spezifisch auf die Beschulung von Minderheiten, die Funktion der Schule in der Beurteilung der Kinderarbeit, die standespolitischen Debatten um die Lehrerlöhne sowie auf die Legitimation, den Vergleich und die Planung von Schulverwaltungshandeln. Er verweist auf die weitgehend ohne elaborierte statistische Methoden durchgeführten Vollerhebungen bei Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften zwecks Kontrolle von und Kritik am staatlichen schulpolitischen Handeln.

Eines der massgeblichen Ergebnisse besteht im Verweis, die Grenzen zwischen amtlichen, quasi-amtlichen und privaten Statistiken seien fliessend. Dadurch spannte sich ein Kräftefeld auf (was der Autor anschaulich illustriert), das im schulpolitischen Feld einen Differenzierungsprozess zwischen privaten sowie öffentlichen Akteuren offenbarte und Widerstände gegen sozialpolitische Datenerhebungen hervorrief, eingeschlossen die Frage, wie objektiv solche Daten seien.

In den Zentralisierungsprozessen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fällt auf, dass ein Treiber für die Datenproduktion in den drei Städten die Kontroverse um die Zusprache finanzieller Ressourcen an die Schulen war. Der Blick auf die quasi-amtliche Schulstatistik belegt beiläufig auch die Vereinnahmung gesellschaftlicher Themen durch die Schule aufgrund der Kritik an ihr im ausgehenden 19. Jahrhundert. Daraus ist die Gegenbewegung entstanden, deren Fokus auf die Schule nicht mehr primär als ‘Ort des Unterrichts’, sondern vielmehr als ‘Ort des Lebens’ gelegen hat.

Ein weiteres Ergebnis liegt im Verweis auf die Funktion der Datenerhebungen: Sie dienten zur Planung und Gestaltung sozialer Phänomene, zur Durchsetzung politischer Ambitionen, als bildungspolitisches Argument und als Bekräftigung der Legitimität einer Institution. Es ist aber laut Ruoss auch offensichtlich, dass Schulbehörden eher verwaltet haben, als dass sie mittels Datenerhebungen Schulreformaktivitäten tatsächlich gesteuert hätten. Der Blick des Autors auf die Lehrerverbände zeigt, dass nach 1900 vor allem besoldungsstatistische Daten erhoben wurden. Man setzte sie dann ein als gewerkschaftliches Instrument, für Selbsthilfeaktionen der Lehrerschaft oder gegen die amtlichen Daten, die in Schulblättern publiziert wurden (etwa hinsichtlich neu aufgelegter Besoldungsgesetze und Lohnverhandlungen von Lehrern mit lokalen Behörden).

Allmählich etablierten sich Zahlen also als feste Grössen der Statistik und damit der pädagogischen Planung. Sie bedurften aber, so der Verfasser, der Narrative, um dank ‘an ekdotischer Evidenz’ (S. 218) wirklich aussagekräftig zu werden. In den Zahlen, dem Zählen und dem Erzählen verschmolzen drei Ebenen quasi-amtlicher Datenerhebungen, die sich gegenseitig bedingten und so zu Varianten der Verwaltungskommunikation einer Behörde wurden. Datenerhebungen veränderten die Schule, aber die Schule veränderte auch Datenerhebungen.

Leider unterlässt es der Autor dieser sonst lesenswerten Studie, methodologische Anmerkungen zu seinem Vorgehen zu machen. Ebenso wenig kümmert er sich um eine quellenkritische Einschätzung des zurate gezogenen Materials. Zwar ist die Fragestellung klar formuliert, aber eine erkenntnisleitende These für die ganze Studie fehlt (etwas versteckt findet sie sich auf S. 88). Zudem vermisst man Advance Organizer, die den Text leserfreundlicher und damit übersichtlicher gemacht hätten. Die Zusammenfassungen am Ende der grossen Abschnitte sind informativ (2.3., 3.4., 4.3), wobei – gerade auch im Schlusskapitel – gelegentlich eine Tabelle oder eine Grafik systematischere Information geliefert hätten als die zuweilen etwas langen Erklärungen.

Zitierweise:
Grunder, Hans-Ulrich: Rezension zu: Ruoss, Thomas: Zahlen, Zählen und Erzählen in der Bildungspolitik. Lokale Statistik, politische Praxis und die Entwicklung städtischer Schulen zwischen 1890 und 1930, Zürich 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 320-322. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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